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Der desorganisierte Bindungsstil – Ich will Nähe, aber ich fürchte sie auch

„Ich brauche dich – aber wenn du mir zu nah kommst, will ich fliehen.“

Der desorganisierte Bindungsstil entsteht, wenn die Menschen, die eigentlich Sicherheit geben sollten, selbst zur Quelle von Angst wurden. Das Kind erlebt einen fundamentalen Widerspruch: Ich brauche dich, um zu überleben – aber bei dir bin ich nicht sicher.

Dieser Stil entsteht häufig durch frühe traumatische Erfahrungen wie emotionalen oder körperlichen Missbrauch, Vernachlässigung, schwere Verlusterlebnisse oder ein dauerhaft bedrohliches Familienumfeld. Besonders belastend ist es, wenn die Bindungsperson selbst Angst macht, gewalttätig ist oder das Kind emotional verwirrt.

In solchen Situationen erlebt das Kind eine emotionale Überforderung, die es nicht verarbeiten kann. Das System entwickelt keine klare Strategie – weder Nähe noch Distanz sind sicher. Die Bindung wird gleichzeitig gesucht und gefürchtet.


Ein Nervensystem im Dauerstress

Der Körper reagiert mit innerem Alarm, sobald emotionale Nähe entsteht. Denn Nähe war früher nicht mit Geborgenheit verbunden, sondern mit Unsicherheit, Verwirrung oder Schmerz. Das autonome Nervensystem pendelt zwischen Fluchtimpuls, Erstarren und Klammern.

Das Bindungssystem ist wie zerrissen:

  • Nähe aktiviert Angst

  • Distanz löst Verlassenheitsgefühle aus

  • Vertrauen ist kaum möglich

  • Gefühle sind intensiv, aber schwer einzuordnen

  • Selbstregulation fällt schwer

  • Beziehungen sind instabil, unvorhersehbar oder sogar destruktiv

Wie zeigt sich dieser Stil im Erwachsenenleben?

Menschen mit desorganisiertem Bindungsstil…

  • erleben intensive Nähe als beängstigend oder überfordernd

  • schwanken zwischen Rückzug, Wut, Misstrauen und Sehnsucht

  • fühlen sich anderen oft ausgeliefert oder hilflos

  • misstrauen ihren eigenen Gefühlen oder halten sich selbst für „zu viel“

  • sabotieren Beziehungen unbewusst, aus Angst vor Kontrollverlust

  • reagieren stark auf Trennungen oder Konflikte, oft mit Panik oder Ohnmacht

  • kämpfen mit einem instabilen Selbstwert und starkem innerem Druck

Sie spüren oft nicht, was sie brauchen – oder können es nicht einfordern. Und selbst wenn Nähe gelingt, bleibt oft das Gefühl, nicht ganz sicher zu sein.


In Beziehungen: Nähe wird zur Bedrohung

In Liebesbeziehungen führt das zu großer innerer Verwirrung. Die Partner werden idealisiert und im nächsten Moment als Gefahr empfunden. Nähe löst starke Impulse aus – zum Festhalten, aber auch zum Wegstoßen. Manche Menschen ziehen instabile, toxische oder übergriffige Beziehungen an, weil sie tief geprägt sind von dem Muster: So fühlt sich Liebe an – schmerzhaft, unsicher, überwältigend.

Auch Freundschaften können unter dieser Dynamik leiden, wenn emotionale Nähe entsteht. Oft werden Beziehungen vorzeitig beendet oder emotional abgeschnitten – aus Angst, zu stark berührt zu werden.


Was dieser Stil braucht

  • sichere, verlässliche Beziehungen mit viel Geduld und Klarheit

  • therapeutische Begleitung, um traumatische Erfahrungen zu verarbeiten

  • Werkzeuge zur Selbstregulation (z. B. durch körperorientierte Ansätze)

  • Unterstützung im Aufbau von Selbstmitgefühl und innerer Stabilität

  • die Erfahrung: Ich darf fühlen – und ich bin sicher, auch wenn es weh tut

Der desorganisierte Bindungsstil ist nicht „kaputt“. Er ist das Überbleibsel einer Überlebensstrategie, die damals notwendig war. Doch was einst Schutz war, steht heute oft im Weg – besonders, wenn es um Liebe geht.

Heilung beginnt mit dem Erkennen: Ich bin nicht falsch. Ich bin verletzt. Und ich darf neu lernen, wie sich Sicherheit anfühlt – in mir und mit anderen.